Die Reliefperspektive

 "Wenn man Gegenstände perspektiv auf eine Tafel abbildet, erhält man eine Darstellung, die denselben Eindruck macht wie die Gegenstände selbst,vorausgesetzt, daß man das Auge genau an die Stelle des Projektionszentrums bringt. Eine geringfügige Bewegung des Auges zeigt aber sofort das Flächenhafte, Platte des Bildes. Besser ist es in dieser Hinsicht mit der stereoskopischen Betrachtung bestellt, die überraschend gut das Körperliche vortäuscht. Sie hat jedoch ihre Beschränkungen. Insbesondere gewährt sie den darzustellenden Gegenständen einen zu kleinen Spielraum. Man kann auf einem anderen Wege versuchen, die Plattheit der Bilder zu beseitigen, nämlich dadurch, daß man statt ebener Zeichnungen erhabene Wiedergaben der Gegenstände in Form von Reliefs schafft. Die Reliefperspektive hat die Aufgabe, die geometrischen Gesetze dieser Abbildung festzulegen und anzuwenden."[1] Bei der Reliefperspektive werden also die räumlichen Gegenstände nicht auf eine oder mehrere Ebenen sondern auf einen von 2 Parallelebenen begrenzten Raum abgebildet. Je weiter diese Parallelebenen auseinander liegen umso ähnlicher ist die Abbildung der Wirklichkeit. Die Reliefpespektive ist heute sehr in Vergessenheit geraten und wird meist im Zusammenhang mit Theaterkulissenbau angewendet. Sie wurde auch als Theaterperspektive bezeichnet. Sinn ist es, die Szene in der begrenzten Tiefe der Bühne unterzubringen und dabei eine größere Weite und Tiefe vorzutäuschen. Die agierenden Schauspieler ordnen sich allerdings entsprechend ihrem Standpunkt auf  der Bühne dem Relief nicht ein. Ähnliches gilt für den Bildhauer, der ein Relief erstellen will. Im 19. Jahrhundert wurde eine Reihe von Monografien über die Reliefpespektive herausgegeben. Ich beziehe mich hier auf die Arbeit des durch die Kurvenlineale bekannten Dr. Ludwig Burmester. Sein Buch behandelt die Gesetze der Reliefpespektive mathematisch und gibt den Werdegang an, 3 verschiedene Modelle in Gips als Relief darzustellen. Diese 3 Gipsmodelle sind als Kleinserie abgegossen und in speziellen Anschauungskästen montiert worden. Verschiedene Hoch-und Fachschulen hatten zur damaligen Zeit diese Modelle angeschafft, um den Studenten die Wirkung reliefperspektivischer Modelle anschaulich zu machen. Die 3 Modelle sind:

        1. Typische Körper
        2. Bogenhalle
        3. Romanische Basilika

"Jedes der Reliefmodelle befindet sich in einem reliefperspectivischen Kasten, der vorn 500mm breit und 340mm hoch ist. Das Auge liegt in der Schnittgeraden der durch eingezeichnete Linien bestimmten Horizontal- und Vertikalebene in 590mm Entfernung von der vorderen Kastenfläche, welche die Bildebene des Reliefs ist. Die parallele Fluchtpunktenebene befindet sich in dem Modell No. 1 im Abstande 470mm hinter der Bildebene, bei den beiden anderen Modellen No.2 und No.3 ist dieser Abstand gleich 350mm. Die Kasten der beiden Modelle No.1 und No.2 sind, um auch die Hinterseite betrachten zu können, mit einer niederklappbaren Hintergrundwand versehen."[2,S.22].
Burmester beschreibt detailliert die Fertigung der Modelle. Zuerst erfolgt die geometrische Konstruktion der Originale in Grund- und Aufriß. Nach Festlegung des Projektionszentrums und der Bild-und Fluchtpunktebene erfolgt daraus die Konstruktion des Reliefmodells. Da das Modell nicht im Ganzen aus zum
Beispiel Gips erstellt werden kann, wird es in kleinere Einheiten (Säulen etc.) zerlegt. Für jedes Teil werden Schnitte konstruiert, nach denen geschlitzte Blechschablonen ausgeschnitten werden. Diese Schablonen werden
ineinandergesetzt evtl. gelötet und die leeren Teile der dadurch enstandenen Körperschablone mit Gips ausgefüllt. Danach werden diese Körper als Teil des Gesamtmodelles geschliffen, sodaß  sie wie das Original scharfe Kanten und glatte Flächen besitzen. Zuletzt muß alles zusammengesetzt und die Stoßstellen so gut wie möglich verputzt werden. Von diesem Modell erfolgte dann die Herstellung der Form und anschliessend der Kleinserienabguß. Man kann ermessen, welche Präzision in der Konstruktion, der Herstellung der Schablonen, der Fertigung der Einzelteile, beim Zusammenbau und beim Formherstellen und Guss erforderlich ist und wie lange es gedauert hat, die reliefpespektivischen Modelle zu erstellen.
Die 3 Modelle auf diese Weise  heutzutage  herzustellen,  ist fast nicht bezahlbar. Der 3D-Druck ermöglicht es aber, in CAD-Programmen erstellte Modelle ( auch zum Beispiel die Burmestermodelle) auch ohne Zerlegung in
körperlich  zu erzeugen. Dies hatte sich Dr. Lordick zum Ziel gesetzt.


Der folgende Beitrag ist von Dr. Daniel Lordick vom Institut für Geometrie der TU Dresden:

Bogenhalle1Bogenhalle2Es folgt nun die Wiedergabe der ersten 30 Seiten der Arbeit von Dr. L.Burmester:
"Grundzüge der Reliefperspective nebst Anwendung zur Herstellung reliefpespectivischer Modelle",Leipzig 1883:
relief1vorwort1s1s2s3s4s5s6s7s8s9s10s11s12s13s14s15s16s17s18s19s20s21s22s23s24s25s26s27s28s29s30

Die in dem vorstehenden Text vorkommenden Bezeichnungen von Punkten,Geraden,Schnittpunkten usw. finden sich auf den Abbildungen des Buches wieder, die aber aufgrund des hier bestehenden Maßstabes und der Bildauflösung nicht wiedergegeben wurden. Die Reliefpunkte können aber auch rechnerisch ermittelt werden. In einer anderen jetzt folgenden Einführung habe ich das kurz angerissen.

Einige mathematische Grundlagen
der Reliefperspektive
Unter der Reliefperspektive versteht man eine besondere Form der Perspektive. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Perspektive eine Erscheinung unserer räumlichen Betrachtungsweise, deren Einfluß sich darin äußert, daß wir mit wachsender Entfernung der Gegenstände eine zunehmende Verkürzung der Strecken wahrnehmen. Mathematisch gesehen ist die Perspektive ein Abbildungsverfahren der Raumpunkte des umgebenden Raumes durch Abbildungsstrahlen, die einen gemeinsamen Schnittpunkt haben, auf eine Ebene. Dieser gemeinsame Schnittpunkt, auch Augpunkt, Zentralpunkt oder Zentrum genannt, muß außerhalb der Abbildungsebene liegen. Das Abbildungverfahren wird als Zentralprojektion bezeichnet.
Das Besondere der Reliefperspektive ist die Abbildung der Raum­punkte auf einen durch zwei parallele Ebenen begrenzten Teil des Raumes und nicht auf eine Ebene. Das Bild der Raumpunkte ist somit im Allgemeinen ein flaches Relief, begrenzt durch die beiden Ebenen. Diese Form der Darstellung sollte der Künstler überall dort an­wenden, wo es darum geht, einen Raum in einer flachen Bildhauer­arbeit, einem Relief, wiederzugeben. Reliefperspektivische Abbildung und zentralperspektivische ebene Bilder haben hinsichtlich ihrer Betrachtungsweise einige Gemeinsamkeiten. Für beide gilt, daß sie nur für eine bestimmte Lage des beschauenden Auges einen naturgetreuen Eindruck vermitteln. Der Betrachter der reliefper­spektivischen Abbildungen müßte deshalb sein Auge in die Lage des Zentralpunktes bringen. Nur von diesem Punkt aus, für den das Relief konstruiert ist, erscheint es natürlich. Diesen Nachteil findet man auch bei Gemälden und manchmal begegnet man in Gemäldegalerien Besuchern, die vor einem Bild hin und her gehen, vor und zurück treten, um einen Standpunkt zu finden, von dem aus das Bild den besten räumlichen Eindruck vermittelt. Das betra­chtende Auge befindet sich dann zumindest in der Nähe des Zentral­punktes. Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, daß wir Gemälde und Reliefs mit beiden Augen betrachten, sie jedoch nur monokular betrachten dürften.
Dies führt zu Verzerrungen bei der Widerspiegelung. Man sollte aber diese Nachteile nicht überbewerten.
Die Reliefperspektive beruht auf einer eindeutigen Abbildung der Raumpunkte auf die Reliefpunkte. Man findet die Punkte des Reliefs rein geometrisch durch folgendes Konstruktionsverfahren: Zunächst müssen die beiden parallelen Begrenzungsebenen in ihrer Lage bestimmt werden. Man wählt eine entsprechende Entfernung des Zentralpunktes Z von der vorderen Ebene, die dem Betrachtungsab­stand entspricht. Dann legt man den Abstand der beiden Ebenen voneinander fest. Dieser Abstand ist gleichzeitig die Tiefe bzw. Höhe des Reliefs. Die hintere Ebene sei Y oder die Fluchtpunkt-ebene, die vordere die Ebene X oder die Bildebene.
Wir ziehen durch einen Originalpunkt A des Raumes eine beliebige Gerade g, die die Ebene X in einem Punkt S schneidet ; legen durch den Zentralpunkt Z zu dieser Geraden g die Parallele ZF, welche mit der Ebene Y den Schnittpunkt F liefert ; verbinden die beiden Punkte S,F durch die Gerade g1 und ziehen den Projektionsstrahl AZ, der auf g1 den Reliefpunkt A1 ergibt.
In gleicher Weise kann zu jedem Originalpunkt ein entsprechender Reliefpunkt gefunden werden. Voraussetzung für dieses Verfahren ist eine maßstäbliche Zeichnung des Grund- und Aufrisses des darzustellenden Raumes. Hier ist schon erkennbar, daß eine zeich­nerische Ermittlung der Reliefpunkte praktisch nur für geometrisch einfache Körper oder einzelne Raumpunkte sinnvoll ist.
Die Reliefperspektive hat noch einige Merkmale, die bei der Erarbeitung des Reliefs beachtet werden müssen:

1. Die unendlich fernen Punkte des Originals ergeben Reliefpunkte, die alle in der hinteren Ebene, der Fluchtpunktebene Y, liegen.

2. Parallele Originalgeraden werden im Relief als Geraden abge­bildet, die einen in der Ebene Y liegenden gemeinsamen Schnitt­punkt haben. ( Ausnahme siehe 3. )

3. Jede zur Bildebene X parallele Originalgerade oder - ebene wird im Relief als zu ihr parallele Reliefgerade oder — ebene abgebildet.

4. Originalpunkte des Raumes, die in der Bildebene X liegen, werden auf sich selbst abgebildet.

5. Verkleinert man den Abstand der Fluchtpunktebene von der Bild­ebene, so wird des Relief immer flacher. Ist ihr Abstand 0, so wird aus dem Relief eine ebene perspektivische Abbildung.
 Dem­nach kann man ein zentralperspektivisches Bild als unendlich flaches Relief bezeichnen und ist somit ein Sonderfall der Reliefperspektive.

6. Wird der Abstand der beiden Ebenen X und Y vergrößert, so wird das Relief dem Original immer ähnlicher und ist bei unendlich groß gedachtem Abstand mit dem Original identisch.

Diese 6 Merkmale sollen zu den Abbildungseigenschaften der Relief­perspektive genügen - es geht doch in den meisten praktischen Fällen um keine genaue geometrische Konstruktion des Reliefs und nach­folgende Übertragung auf das plastische Kunstwerk. Trotzdem sollte für alle, die es interessiert, eine Möglichkeit gegeben werden, um besondere Darstellungsverhältnisse zunächst geometrisch zu ermitteln. Die Anlage des Reliefs, besonders die Abstände der Reliefpunkte von der Fluchtpunktebene oder der Bildebene, läßt sich aber auch rechnerisch nachprüfen. Dazu dienen die nachstehenden Formeln, deren Symbole jetzt erläutert werden sollen.

    e - Entfernung des Originalpunktes vom Zentralpunkt (nur Raumtiefenkomponente y)
    c - Abstand der Bildebene X vom Zentralpunkt
    t - Abstand der Bildebene X von der Fluchtpunktebene Y (Höhe bzw.. Tiefe des Reliefs)
    f - Abstand des Reliefpunktes von der Fluchtpunktebene
    d - Abstand des Reliefpunktes von der Bildebene
    b - Tiefenunterschied im Relief ( d1 - d2 )
    s - Tiefenunterschied im Original ( e1 - e2 )


1. Bestimmung des Abstandes des Reliefpunktes von der Bild- bzw. Fluchtpunktebene

Beispiel: Das Relief soll eine Höhe t von 2o cm haben.
Der Betrachtungsabstand c sei 4 m. Der darzustellende Punkt im realen Raum (Originalpunkt) hat vom Beschauer einen Abstand e von 7 m.
 
Es gilt die Formel:   
\[ d = \frac{{e - c}}{{e + t}} \cdot t \]
  d = 8.3cm = 83 mm
Der Reliefpunkt hat einen Abstand von 83 mm von der vorderen Reliefebene, der Bildebene.
\[ \begin{array}{l} t = A + \sqrt {A^2 + B} \\ A = \frac{{s \cdot c - (e_1 + e_2 ) \cdot b}}{{2 \cdot (b + e_2 - e_1 )}} \\ B = \frac{{b \cdot e_1 \cdot e_2 }}{{e_1 - e_2 - b}} \\ \end{array} \]
2. Transformation von Realpunkten in Reliefpunkteformeln

3. Beispielbestimmung der Reliefpunkte eines Würfels

    gegeben: Kantenlänge 100mm, Kante nach vorn, c = 500mm, t  =300mm

würfel
    oben links: Seitenansicht               oben rechts: Vorderansicht                   unten links: gerenderte Ansicht                   unten rechts: Grundriss, Ansicht von oben

4. Reliefperspektivische Mesh-Modelle (3D)

Die oben angegebenen Umrechnungsformeln für Realpunkte in Reliefpunkte lassen sich auch auf sogn. Meshes anwenden.Voraussetzung ist, das das Modell im STL-Datenformat gespeichert worden ist. Auf die darin enthaltenen Punkte muß nur die Transformation angewendet werden und statt der alten die errechneten Koordinaten eingesetzt werden. Der Zusammenhang der Punkte (das Netz) muss erhalten bleiben. Ich gebe hier das Beispiel für eine Buddhafigur an. Es folgen die gerenderten Modelle Original und Relief. Die Abflachung des Reliefs ist deutlich zu erkennen.b1b2

Das obige Beispiel des Buddha steht für die Anwendung eines kleinen Computerprogrammes, das die STL-datei (nicht im Binärformat) des Buddhas nach und nach ausliest, dabei die Punktkoordinaten des Netzes bestimmt, diese mit den Vorrausetzungen t und c umrechnet und wieder eine STL-Datei bildet. Beim Importieren in ein CAD-Programm erhält man dann zur Kontrolle die Darstellung als Relief. Viele werden sagen,das man das einfacher haben kann. Man skaliert einfach das Netz mit unterschiedlichen Faktoren für die Koordinatenrichtungen (z.B. in x: 0.7,  in y: 0.1,  in z: 0.7). Mit solchen Abflachungen ist tatsächlich kein großer Unterschied zu einem gleichartigen Relief vorhanden, da die Perspektive kaum noch erkennbar ist. Ein Grund ist auch, das das Modell nur Rundungen hat. Trotzdem besteht zwischen der Skalierung des Meshes und der Anwendung der reliefperspektivischen Rechnung ein Unterschied. Die Skalierung wirkt in Richtung der Skalierungsachse gleichmäßig. Die Reliefperspektive aber verflacht das Mesh in Richtung Fluchtpunktebene immer mehr. Will man aber Modelle erhalten,wie die von Burmester bzw. Lordick, so stellt die Umrechnung der STL-Daten der Konstruktionen dieser 3 Modelle die schnellste Methode dar, um mittels  des 3D-Druckes zu diesen Modellen zu gelangen.
b3
Vergleich 3er STL-Modelle: mittleres Modell ist das Original; linkes Modell: Reliefmodell, das durch die Wirkung der Perspektive, d.h. durch die Stellung des Augpunktes zum Original verändert wurde. Die Reliefmodelltiefe beträgt 0.33 des Originalmaßes. Für den Augpunkt ist die Darstellung mit dem Original identisch. rechtes Modell: das Originalmodell wurde wie das Reliefmodell auf 0.33-faches in der Tiefe skaliert  (Reliefparameter c=1000mm, t=500)

[1]: G. Scheffers: Lehrbuch der Darstellenden Geometrie II; Berlin 1920; Seite 424
[2]: Dr. L. Burmester: Grundzüge der Reliefperspective; Leipzig 1883